War "Flipper" schwul?

Quelle:
GEO WISSEN "Frau & Mann" / Sept.2000

Masturbierende Walrosse? Gruppenorgien bei Seekühen? - Lange Zeit taten sich Biologen schwer zu glauben, was sie sahen: Homosexualität ist im Tierreich genauso verbreitet wie bei den Menschen.

Ein Text von Lothar Frenz

Ein starkes Band verbindet die beiden Delfinmänner. Beinahe ihr ganzes Leben lang ziehen sie gemeinsam durch die Meere, schützen sich gegenseitig vor angreifenden Haien - und während der eine ruht, wacht der andere über ihn. Stirbt einer von ihnen, bleibt der "Witwer" oft allein. Ungefähr drei Viertel aller männlichen Großen Tümmler leben in solchen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften - und haben regelmäßig miteinander Sex: Mit den Flossenspitzen und der Schnauze stimulieren sie einander die Genitalien oder dringen mit erigiertem Penis in den Geschlechtsschlitz des Gegenübers ein. Fernsehstar "Flipper", der "Freund aller Kinder" - schwul?

Nicht nur Flipper: Auch männliche Gorillas leben häufig in Junggesellentrupps und verkehren über Jahre hinweg sexuell bevorzugt mit einem Partner des gleichen Geschlechts - bis hin zum Samenerguss. Auch Löwen treiben es mitunter mit Löwen und Löwinnen mit Löwinnen. Weibliche Warzenschweine erregen sich bei homosexuellen Spielen, ebenso Makaken und Seehunde, Sumpfhühner, Königspinguine, Rosa-Flamingos und Elstern.

Bei mehr als 450 Spezies haben Forscher homosexuelle Verhaltensweisen beobachtet; der amerikanische Biologe Bruce Bagemihl hat sie ausführlich beschrieben. Unzweifelhaft ist Homosexualität also nicht nur ein menschliches Phänomen, sondern gehört zum Verhaltensrepertoire vieler Tiere, zumindest von Säugern und Vögeln.

Dabei haben Wissenschaftler jahrhundertelang die "verbotene Liebe" unter Tieren vertuscht, verheimlicht, umgedeutet oder ganz einfach nicht wahrnehmen wollen. Es konnte nicht sein, was nach herrschender Auffassung nicht sein durfte. Dazu kam bei manchen Forschern auch die Furcht, wegen der Beschäftigung mit diesem Phänomen selber für homosexuell gehalten zu werden.

Nur wenige gestehen so freimütig die eigenen inneren Widerstände ein wie der kanadische Biologe Valerius Geist. Bei langjährigen Beobachtungen von Dickhornschafen in den Rocky Mountains stellte er fest, dass die männlichen Tiere sich zwar zur Brunstzeit dem anderen Geschlecht zuwenden, sonst aber das ganze Jahr über in Rudeln leben und unter Männern verkehren: "Noch immer zucke ich zusammen, wenn ich daran denke, wie der eine Widder den anderen mehrfach bestieg. Zunächst habe ich das "aggressosexuelles" Verhalten genannt, doch schließlich musste ich einräumen, dass diese Wildschafe tatsächlich eine homosexuelle Gemeinschaft entwickelt haben. Mir vorzustellen, dass diese wunderbaren Geschöpfe "schwul" sind, das war mir zunächst einfach zu viel."

Lange Zeit wurde das gleichgeschlechtliche Verhalten bei Mensch und Tier auf Hormonstörungen oder Fehlprägungen im Kindesalter zurückgeführt und so als vereinzelt auftretende "Perversion" oder "Abnormalität" abgetan. Andere Forscher erklärten Homosexualität als "Übung" für den "richtigen" Sex - den zwischen den beiden Geschlechtern nämlich. Doch warum sollten Dickhornwidder Sex mit Partnern ihres eigenen statt des anderen Geschlechts "üben" müssen? Nach einer weiteren These kommen Tiere zum homosexuellen Verkehr, wenn es an Angehörigen des anderen Geschlechtes mangelt. Doch auch diese Erklärung hinkt: Manche männliche Strauße - ein bis zwei Prozent - sind uneingeschränkt homosexuell: Sie bevorzugen auch in Anwesenheit von Weibchen einen schmucken Mann.

Die Vielfalt gleichgeschlechtlicher Aktivitäten im Tierreich macht die Suche nach Erklärungen für das Auftreten von Homosexualität schwierig. Vor allem Evolutionstheoretiker, die nach einer im Erbgut verankerten Homosexualität suchen, stehen vor einem fundamentalen Problem: Da Homosexuelle weniger Nachwuchs als Heterosexuelle zeugen, hätten den Regeln der Evolution zufolge beteiligte Gene längst verschwinden müssen. Warum sollten Mensch und Tier so viel Zeit mit nicht-reproduktivem Sex "verschwenden", wo "Erfolg" nach Darwins Erkenntnis doch bedeutet, dass möglichst viele der eigenen Gene an die nächste Generation weitergegeben werden?

Einige Wissenschaftler billigen der Homosexualität dennoch einen evolutionären Vorteil zu. Er liege gerade darin, dass sie nicht zu Nachkommen führe und dadurch einer Überbevölkerung vorbeuge. Es sei also sehr wohl sinnvoll, von einer genetisch bedingten Veranlagung auszugehen. Allerdings: Wenn die Ausprägung von "Schwulengenen" dazu führen soll, dass sie eben nicht weitervererbt werden - wieso gibt es Schwule dann immer noch?

Vielleicht aber verschafft diese Veranlagung einen anderen speziellen Vorteil, der eine verringerte Kinderzahl ausgleicht: Schon 1975 postulierte Edward O. Wilson, der "Vater der Soziobiologie", dass Homosexualität "nützlich" für den Menschen sein könnte, weil sie womöglich mit altruistischem Verhalten verknüpft ist. Wilson argumentiert: Beteiligen sich Homosexuelle etwa an der Aufzucht der Kinder von Verwandten, dann fördern sie indirekt auch die Verbreitung des eigenen Erbguts. Als Beleg für diese Theorie führt Wilson vor allem Vogelspezies an, bei denen kooperative Brutpflege üblich ist und "Helfervögel" unter Verzicht auf eigenen Nachwuchs die Jungtiere naher Verwandter betreuen.

Der afrikanische Marmorweber etwa lebt in großen Kolonien mit gemeinschaftlichen Brutsystemen und "Helfern". Und manche davon verzichten tatsächlich auf eigene Nachkommen. Wilsons Theorie allerdings widerspricht, dass vor allem die brütenden Männchen "regulärer" Partnerschaften zusätzlich auf gleichgeschlechtlichen Sex aus sind. Mit evolutionären Regeln sind also offenbar nicht alle sozialen Muster zu deuten. Je subtiler das Sexualleben von Tieren unter die Lupe genommen wird, desto größer und bunter erscheint die Palette erotischer Verhältnisse - und desto mehr Erklärungen für gleichgeschlechtliches Tun provoziert sie.

So sind die Bonobos, neben den Schimpansen die nächsten Verwandten des Menschen, als wahre Sex-Akrobaten bekannt. Mehrmals täglich treiben es diese Affen in vielfältigen Stellungen und in jeder denkbaren Kombination: Männer mit Männern, Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen, Männer mit Kindern und Frauen mit Kindern. Die Erklärung der Verhaltensforscher für das "ungezügelte" Leben der Bonobos: Damit bauen diese Menschenaffen Spannungen innerhalb ihrer Gruppe ab - schaffen also "Frieden durch Sex".

Die meisten Tiere, auch das zeigt die Auflistung des Amerikaners Bagemihl, verhalten sich weder ausschließlich hetero-, noch homosexuell, sondern das Spektrum der Beziehungen reicht von gelegentlichen Seitensprüngen zum gleichen Geschlecht bis zu fast lebenslangen Bindungen. Dabei beteiligen sich auch gleichgeschlechtliche Paare an der Aufzucht von Jungen: "Schwule" Schwarze Schwäne stibitzen anderen Paaren die Eier, männliche Kapuzen-Waldsänger-Paare adoptieren verlassene Küken, und "lesbische" Möwen lassen sich zwar durch einen Möwen-Mann befruchten, wenden sich danach aber wieder der Auserwählten zu und brüten mit ihr gemeinsam.

Nach Bagemihls Auffassung hat sexuelles Verhalten oft gar nichts mit "zweckvoller" Fortpflanzung in evolutionärer Sicht zu tun, sondern geschieht einfach aus Spielfreude und purer Lust: Die Männer der Manatis, der gemütlich wirkenden karibischen Seekühe, vergnügen sich in Gruppenorgien; männliche Vampirfledermäuse hängen Bauch an Bauch und belecken einander, wobei sie dem erigierten Glied des anderen besondere Aufmerksamkeit zollen; Walrossbullen masturbieren nicht nur regelmäßig allein vor sich hin, sondern befriedigen sich beim Treiben im flachen Wasser auch gegenseitig.

Homosexuelles Verhalten ist also schon in der Tierwelt verwirrend komplex. Beim Homo sapiens bestimmen obendrein Moral und Kultur die gelebte Sexualität: Manche Gesellschaften fördern ein bestimmtes Verhalten oder tabuisieren und verbieten es. In vielen Ländern ist Homosexualität noch immer strafbar, in einigen islamischen sogar mit dem Tode bedroht. Bei den Sambia dagegen, einem Volk auf Neuguinea, gehört gleichgeschlechtlicher Verkehr in Form von oralem Sex für junge Männer zur "Mannwerdung". Und bei vielen amerikanischen Indianerstämmen gab es bis ins 20. Jahrhundert so genannte "Berdachen" oder "Two-Spirits": Manche Männer und Frauen lebten in der sozialen Rolle und Kleidung jeweils des anderen Geschlechts, verkehrten sexuell aber auch mit Mitgliedern des eigenen.

Wer also homosexuelles Verhalten beim Menschen untersucht oder möglichen "Schwulen-Genen" nachspürt, steht vor einem Dilemma: Er muss zunächst klären, ob er ein biologisches Phänomen erforscht oder eine soziale, Wandlungen unterworfene Sitte.