Nuit

Eine weitere fiktive Kurzgeschichte von Dobbin
 


 
Ich liege wach, es ist fast 3 Uhr morgens. Kaltes Sternenlicht wirft durch den offenen Vorhang neben meinem Bett einen bleichen Schein in den Raum. Ich starre nach draußen, auf die Sterne, auf das finstere Land.

Ein kalter Ostwind streicht klagend über die öden Felsen und Rinnen des leeren Hochmoores und rüttelt an den Läden vor meinem Fenster.

Ich denke wieder an den Tod meiner Eltern. Wieso mußten sie sterben? Ich bin so zornig auf sie, ich hasse sie! Wir standen uns nie nahe, ich glaube nicht, daß ich ihnen jemals sagte, daß ich sie liebte, sie würden mich niemals verstanden haben. Ich versuchte immer, soviel Distanz wie möglich zwischen uns zu halten und ich log viel. Sie wußten nie, wer ich wirklich war. Niemals.

Ich weinte beim Begräbnis, ich glaube die Leute hielten das für angemessen. Wenn sie wüßten, daß ich nicht um meine Eltern weinte, ich weinte wegen dem, was noch geschehen mußte.

Es sind nun acht Wochen, die ich hier bei meinen Großeltern im Hochmoor lebe. Acht Wochen...

Acht Wochen, seit wir voneinander Abschied nahmen.

Meine Großeltern sagten, sie hätten einfach nicht genug Land und sie könnten es sich nicht leisten, wenn ich Mercy mitbringen würde. Sie wurde verkauft... Verkauft.

Ich beiße mir auf die Lippen. Gott, ich hasse meine Eltern wegen ihres Todes. Jetzt habe ich sie verloren, das einzige Ding auf Erden, das ich jemals wirklich geliebt habe. Oh, und ich liebte sie tatsächlich.

Mit Mercy kam ich so nahe daran echt zu fühlen, wie nie zuvor. Wenn ich mit ihr allein war, fühlte ich mich fast wie ein Pferd, wie ihr Hengst. Ich weiß, ich hätte nicht Mensch sein sollen, es ist alles ein furchtbarer Irrtum. Ein schrecklicher, tragischer, bitterer, schmerzlicher Irrtum.

Während wir zusammen waren fühlte ich mich wie ein Hengst; wild, nicht menschlich, stolz, so sehr lebendig. Jetzt... Jetzt fühle ich mich bestenfalls wie ein Fohlen, das im Schlachthof darauf wartet zu sterben.

Ich bin gebrochen.

"Oh Mercy, ich liebe dich, Gott, ich liebe dich..."

Ich schluchze leise, kalte Tränen laufen über mein ausdrucksloses Gesicht und tropfen auf die Fensterbank.

Es ist vorbei, es ist alles vorbei, da ist einfach nichts. Nichts für mich.

Ich zittere leicht, klammere mich an mein Bewußtsein, gepackt von verzweifeltem Entsetzen. Es ist ein Gefühl als würde mein Herz, mein Verstand aus mir heraus explodieren, als würde ich in Stücke brechen.

Es gibt nichts, was ich jetzt tun kann. Ich klettere aus dem Bett, ziehe meine Stiefel über und beschließe in das gefrierende Moor hinauszuwandern, in die Vergessenheit, und zu sterben, wie ein verhungerndes Pony, erfroren im Schnee.

Nichts auf dieser Welt bedeutet mir irgendetwas, in diesem Leben, ich möchte nur ein Pferd sein. Wenigstens werde ich wie ein Pferd sterben.

Ich schleiche mich leise aus dem Haus. Ich werde keinen Brief hinterlassen, niemand könnte vielleicht verstehen wieso ich dies tun muß. Lasse sie leiden. Leiden.


Der bittere Wind peitscht auf mich ein, als ich über knirschenden Schnee und Eis auf den Pferdefelsen zugehe. Es ist nur ein Haufen Steine, aber es scheint der richtige Ort zum Sterben. Ein Hinweis, ein Zeichen das nicht jeder verstehen wird, nicht einmal jetzt. Es ist ungefähr eine Meile, ich denke ich kann es schaffen bevor ich erfriere.

Ich gehe mit Bestimmtheit, zitternd, aber nur vor Kälte. Die letzten Tränen, die ich jemals geweint haben werde, gefrieren langsam in meinem Gesicht.

Ich kann jetzt den zerklüfteten Umriß des Felsturms in der Ferne erkennen. Ich denke an die Geschichte, die meine Großmutter darüber erzählte.

Ein sinnloser Aberglauben besagt, daß in einem finsterem Zeitalter König Alfreds großes Schlachtroß, die Stute Nuit, im Kampf an dieser Stelle getötet wurde und daß Alfred die Steine zu ihrem Gedenken aufrichtete.

Es ist dumm natürlich, die Felsen sind nichts mehr als Teil der Landschaft hier oben. Kalter Granit aus der Erde herausgeschliffen durch tausende Jahre brutaler Stürme.

Ich betrachte all diese schöne, tragische Gegend, auf dem Weg in meinen Untergang. Ich fühle mich hier zuhause, ein wilder Ponyhengst der über das gefrorene, stechginsterbedeckte Land wandert, über zerbröckelndes Gestein, über klirrende eisige Schneefelder. Der Himmel darüber ist erfüllt mit tiefen, finsteren, sich kräuselnden Fäden von Wolken, die sich vor dem hell funkelnden Firmament abzeichnen, wie der leere Ozean, unermeßlich. Ich glaube diese Wolken sind hier bekannt als "Stutenschweife", heh, ich lächle fast.

Hier ist es, die verfluchte Klippe vor mir ist der Pferdefelsen, gottseidank, denn ich kann kaum noch gehen.

Ich falle auf die Knie am Fuße des Felsens, dem Rand der Klippe, meine nackten Arme sinken in den knisternden Frost und berühren das uralte Gestein.

Der Wind hier tost fast ohrenbetäubend durch die Spalten des gemarterten Felsens, brüllt durch meine Ohren wie schreiende Pferde, und endlich.... Ich ergebe mich und lasse es heraus, schreie es hinaus, allen vier Winden entgegen:

"ICH WILL EIN PFERD SEIN!!!"

Oh Gott, laß mich nur sterben, laß alles zu Ende sein. Ich weiß nicht einmal ob ich an Wiedergeburt glaube, aber etwas in mir muß einfach hoffen, daß ich, wenn ich sterbe, wiederkehre, als Hengst.

Ich drücke meinen Körper, mein Gesicht gegen die kalte Erde, schließe dann meine Augen und lasse das windige Moor mich verzehren.

Ich liege da im Dunkeln, die Kälte frißt sich in mich hinein wie ein Parasit, läßt mein Blut erstarren, gefriert meine Knochen. Ich sterbe.

Doch plötzlich, für einen Augenblick, fühle ich Wärme in meinem Genick.

Warme Luft streicht zärtlich über mich, und ich öffne meine Augen um eine dünne Wolke von erwärmter Luft über mir kondensieren zu sehen. Oh Gott nein, jemand hat mich gefunden!

Ich wälze mich unter Schmerzen zur Seite, und, fast in Bauchlage auf der Steinplatte liegend, sehe ich auf, um einen über mir stehenden Schatten zu erblicken.

Einen riesigen Schatten.

Ihre schönen dunklen Augen blicken auf mich hinab, schimmernd im Sternenlicht, einen Ausdruck von hoffnungslosem Kummer in ihrem Gesicht. Ihre Nüstern blähen sich, als sie wieder schwer zu mir hin ausatmet, und ich fühle die Wärme dieser massigen, majestätischen schwarzen Stute.

Ich bin bewegungslos, gelähmt, ich kann überhaupt meinen Körper nicht länger spüren.

Dann scheint es als hörte ich, oder fühlte ich, in meinem Geist, eine Stimme, oder vielleicht einen Gedanken, der von ihr kommt. Ich weiß er kommt von ihr.

"Komm mit mir... Bruder.", sagt sie.

Der Gedanke hallt in meinem Kopf wider, wird von meinen Erinnerungen zurückgeworfen, strahlt durch meine Seele wie die Berührung eines Engels... "Bruder.", hatte sie gesagt... Bruder.

Ich krümme mich für einen Moment im Schnee, nicht imstande mich geradewegs zu kontrollieren, und dann, zitternd und unbeholfen, erhebe ich mich um zu stehen...

... auf vier Hufen.


© Dobbin, January 1st 1997
Translated by Caballingus