Gebrochenes Herz

von Isländer


Der Morgen graut. Wie tausend rauchige Finger gleitet der Nebel über die stille Szenerie. Der Himmel wird heller, das fahle Grau des beginnenden Morgens weicht dem ersten Gold der Sonnenstrahlen. Hinter den Hügeln, alt und ehrwürdig, blinzelt sie hervor, küsst mit ihrem Licht die still daliegende Landschaft wach. Der Nebel weicht, zieht sich zurück in die Wälder. Er hat es nicht eilig, er weiß, dass er wiederkommen wird. Die Wiese liegt vor mir, schimmernder Tau benetzt die grünen Halme, jeder einzelne Tropfen ein Abbild der erwachenden Sonne.

Mein Blick streift über diese Idylle, mein Ohr vernimmt den Gesang der Vögel. Zartes Zwitschern und Jubilieren erklingt in Bäumen und Sträuchern, begrüßt den neuen Tag. Auf der Wiese lädt Meister Lampe zum Tanz ein, zwei Hasen tollen herum an diesem wunderschönen Frühlingsmorgen. Alles wirkt friedlich, die Ruhe strömt in mich und lässt mein Herz langsamer schlagen. Tief atme ich ein, genieße den schwachen Hauch von Wildblumen über dem unbeschreiblich frischen Geruch von nassem Gras und kühler Luft. Seit gestern sitze ich hier, sah dem Mond bei seiner Wanderung zu. Die Sterne blinzelten mich an, sprachen mit mir.

Doch all dies geschah am Rande, denn meine Anwesenheit hatte einen Grund. Dieser Grund steht zwischen den Blumen auf der Wiese, fesselt mich seit gestern an meinem Platz. Auf einem harmlosen Spaziergang kam ich hier vorbei, genoss den lauen Frühlingsabend vom Vortage.

Dann sah ich ihn dort stehen. Eine Manifestation des Wortes Schönheit. Gestaltgewordene Energie. Der Inbegriff von Kraft und Eleganz. Am Abend, als die letzten Strahlen der untergehenden Sonne sein Fell in Feuer verwandelte, als seine rötliche Mähne wie von innerem Glanz erstrahlte, da fühlte ich es. Jene wunderbare Glückseligkeit, jenes vollkommene Glück, welches nur die echte Liebe birgt. Wie festgewachsen erstarrte ich, meine Augen jedes Detail dieses göttlichen Pferdes einsaugend. So verbrachte ich den Abend und den Beginn der Nacht an jener Stelle, an der ich das Pferd erblickte. Als meine Beine lahm und müde wurden, schwer als ob ein schelmischer Gnom sie mit Blei gefüllt hätte, da setzte ich mich auf einen Stein. Es war ein kantiger, harter Stein. Er war kalt und unbequem und ich spürte wie sich kleine Steinchen und Spitzen durch den Stoff meiner Hose in meine Haut bohrten. Doch es interessierte mich nicht.

Noch nie zuvor hat mich etwas so verzaubert wie der Anblick dieses Pferdes, welches dort auf der Weide graste. Ab und zu hob es seinen Kopf und schüttelte seine dichte, prächtige Mähne. Ein Schauspiel, welches mir bei jeder Gelegenheit den Atem raubte. Mit einer selbstverständlichen Lässigkeit aber doch einer gewissen Eleganz geschah dieses Schütteln. Eine Geste, die keinen Zweifel daran ließ, wer der wahre König der Steppe war. Das eine oder andere Mal würde es mit seinem Grase innehalten und mich aus seinen klugen, braunen Augen mustern. Einmal sogar kam es ganz dicht an den Zaun und mich heran, beugte seinen Kopf herüber und reckte die herrlich weichen Nüstern in meine Richtung. Wie Feuer brannte das Verlangen in mir, dieses Pferd zu berühren, mich zu vergewissern, dass es real war und nicht nur eine Einbildung meiner Phantasie. Doch gleichzeitig war ich vor Furcht gelähmt, vor der Furcht, dass es doch nur ein Traum sein würde. Dann würde ich es mir nie verzeihen, ihn so schnell beendet zu haben.

Und so verbrachte ich die kalte, klare Nacht auf diesem Stein, am Morgen kroch der Nebel durch meine Kleider, es wurde kalt und klamm. Doch allein der Anblick der erwachenden Schönheit vor mir machte diesen Preis tausend mal wett. Und wie sehr hüpft mir das Herz im Leibe, als seine ersten, offenbar noch ein wenig schlaftrunkenen Schritte ihn an den Zaun führen, zu mir. Neugierig mustert er mich, reckt wieder seinen Hals in meine Richtung. Und diesmal wage ich es, ihn zu berühren. Er ist real! Es ist kein Traum! Samtig und weich ist die Haut an seinen Nüstern und seinen Lippen, weich und glatt liegt das Fell an seinem hübschen Kopf an. Ich stehe auf, und nehme ihn vorsichtig in den Arm. Es scheint ihm zu gefallen, und er bläst mir warme Luft ans Ohr. Ich seufze glücklich und genieße die Nähe des Pferdes, die Liebe zu ihm, die mich durchströmt. Ich wie nicht, wie lange ich da stand, der Nebel ist schon fast vollständig verschwunden. Sanft streichen die Finger über sein Fell, liebkosend und massierend bewegen sie sich am Hals und an den Vorderläufen entlang. Schließlich halte ich es nicht mehr aus, ich möchte es küssen, seine Lippen auf meinen spüren. Doch als wir uns treffen, als unsere Zungen sich finden und ich nach einem langen und zärtlichen Kuss meine Augen aufschlage sehe ich, wie dieses Götterpferd sich auflöst!

Es wird blass! Durchscheinend! Verschwindet wie der Nebel, den die Sonne wegbrennt. Ein Aufschreien! Es darf nicht sein! Es muss bei mir bleiben! Ich muss bei ihm bleiben!

Doch als ich es halten will greifen meine Hände ins Leere, gleiten durch seinen Körper als wäre er nur ein Schatten. Tränen verschleiern meinen Blick, als es mir ein letztes Mal unendlich traurig in die Augen schaut, dann ist es nicht mehr zu sehen. Nun steht die Sonne vollständig über den Bergen als runde, glatte Scheibe. Auch der Nebel ist verschwunden, und mit ihm mein geliebtes Pferd. Ich glaube, noch leise ein trauriges Wiehern zu hören, welches von den Felswänden widerhallt, doch schon bald ist es so leise, dass es nur noch in meinem Kopf erschallt.

Niedergeschlagen mache ich mich auf den Heimweg, mein Herz leer und doch so schwer nach diesem Erlebnis. Ich spüre auf einmal jede Sekunde dieser langen, kalten Nacht, spüre die Schmerzen, die der Stein verursachte. Des Gezwitscher der Vögel klingt wie Hohn in meinen Ohren und die Sonne ist mein ärgster Feind, nahm sie mir doch im Augenblick höchsten Glücks die große Liebe, die sie mir am Abend zuvor so stolz präsentiert hatte. Nun hatte ich alles gewonnen und direkt alles wieder verloren. Ich habe keine Freude mehr an diesem Wald, keine Freude mehr am Frühling und ich bezweifle, ob ich jemals wieder Freude am Leben haben werde.

Vor mir höre ich Rauschen... eine Brücke, hoch über einem tosenden Fluss. Ich lehne mich auf die Brüstung, meine salzigen Tränen tropfen, eine nach der Anderen in die schokoladenbraunen Fluten. Ich schaue noch einmal nach unten, da sehe ich inmitten dieser reißenden Gischt, Dutzende Meter unter mir eine flache Stelle in dem schaumigen Chaos aus scharfen Felsen und tückischer Strömung. Und aus dieser flachen Stelle blickt mich mein geliebtes Pferd an. Das Pferd, was ich als verloren glaubte! Es lebt, es ist dort unten, es wartet auf mich! Mein Herz bleibt stehen, ich sehe dieses unglaublich süße Gesicht tief unter mir... und lasse mich einfach auf das steinerne Labyrinth mit seinen gnädigen, tödlichen Spitzen fallen.

Selbst wenn es wieder nur ein Trugbild war, was habe ich denn noch zu verlieren?