Einssein

Eine fiktive Kurzgeschichte von Dobbin 
3rd August 1996


 

Nun wird mir alles sehr klar - ich beobachte staunend meine Gedanken, wo nun Welle für Welle der Offenbarung mit ständig wachsender Intensität, stetig wachsender Schönheit mein Bewußtsein durchdringt.

Wie offensichtlich doch alles jetzt ist. Szenen aus meinem Leben steigen in mir auf wie eine Flut. Ich entdecke, erinnere mich, akzeptiere und nun endlich verstehe ich. Ja, es ist so, alles scheint miteinander verbunden zu sein.

Ich kann mir nun erklären, warum ich die Dinge tat, die ich tat, und warum ich fühlte wie ich fühlte. Und jetzt habe ich die Freiheit zu fühlen, die Freiheit, über die Zeiten der bitteren, kleinlichen Auseinandersetzungen hinauszuwachsen. Der zermürbende Krieg mit mir selbst, der Krieg mit der Welt, er ist beendet. 


Ich klettere über die letzten kleinen Felsblöcke, die über den Gebirgskamm hinausragen. Man hat mir gesagt, daß ich an diesem Ort die beste Chance habe, einen Blick auf das zu erhaschen, von dem ich fühle, daß ich es sehen muß.

Die grelle Sonne überzieht den Himmel mit einem weißen Dunst. Am Horizont Berggipfel in leuchtendem blau-weiß. Ein unglaublicher Anblick. Nirgendwo zeigt sich die Welt dem Betrachter klarer als hier. Realer.

Müde vom Klettern setze ich mich auf einen Felsen, von dem aus ich das weite, flache Tal in seiner Länge überblicken kann. Ich warte, und ich denke. 


Ich denke über das mächtige, zeitlose Bewußtsein nach, daß diese Berge durchdringt. Mir kommen die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Philosophien und Einsichten in den Sinn, die zu benennen ich noch nicht vermag, von denen ich aber fühle, daß sie vorhanden sind.

Wenn ich über den Ort, an dem ich mich befinde, nachdenke, muß ich innerlich lächeln. Die "Himmlischen Berge....hmmm." Ich lächle, und aus dem Lächeln wird ein Grinsen, als mir bewußt wird, daß wieder der Zufall seine Hand im Spiel hat.

Pferde werden in meiner Welt immer einen besonderen Platz einnehmen. Aber nun ich bin stolz auf meine Bereitwilligkeit zuzugeben, daß Pferde nicht wichtiger sind als alles Andere. 


Ich höre ein Grollen, entfernt zwar, aber es nähert sich, und bin augenblicklich den Tiefen meines Sinnierens entstiegen. Wenn ich das Tal entlangsehe, westwärts, kann ich sie kommen sehen.

Sie traben und galoppieren, sie fliehen nicht, sie sind unterwegs. Einen Moment lang beobachte ich sie genau, dann mache ich mich auf meinen Weg durch das trockene, unsichere Gelände zum Boden des Tales, ein kurzes Stück vor ihnen.

Wie ich dort ankomme, haben sie sich verteilt und grasen. Sie sind noch ungefähr eine Meile westlich von mir in dem leicht abfallenden Tal. Noch eine Weile sehe ich zu den vierbeinigen Silhouetten hinüber, dann mache ich mich auf den Weg. 


Staunen erfüllt mich. Ein unbeschreibliches Gefühl heiliger Scheu vor dem Leben. Ich fühle den Boden unter meinen Füßen. Ich fühle, daß er aus hartem, staubigen Gestein besteht, aber ich fühle auch seine - Gegenwart -.

Die Ausläufer der Hügel zu meinen Seiten werfen nicht nur ihre Schatten auf mich und schützen mich vor dem Wind. Sie sitzen dort, wuchtig und zeitlos, und doch sind sie sich meiner Nähe - bewußt -.

Alles um mich herum ist lebendig. Alles um mich herum ist bewußt, hat Gefühl, hat Atmosphäre. Ich glaube zwar nicht, daß die Hügel selbst in ihrem Bewußtsein etwas haben, was ich einen Gedanken nennen könnte, aber dennoch ist dort Leben, ist dort Energie. 


Ich wandle zwischen ihnen, und sie scheinen nicht beunruhigt. Dies sind die letzten wilden Pferde der Erde, die "Himmlischen Pferde" Chinas. So wild, so un-vertraut der Anwesenheit von Menschen, und doch weichen sie nicht vor mir zurück.

Sie verstehen, daß ich verbunden bin, sie wissen, wer und was ich bin. Ich bin jetzt in Einklang mit mir, in Einklang mit der Welt. Die Welt kennt mich, und so kennt mich auch alles, was in Einklang mit der Welt ist. Und diese stolzesten und schönsten aller Wesen sind fraglos gesegnet mit den lebendigsten und leuchtendsten Seelen. Sie sind eins.

Eine alte Stute kommt heran, sie streckt ihren Kopf vor und riecht an mir. Ich erwidere den Gruß mit meinem Gesicht. Unsere Blicke treffen sich, ein symbolischer Gruß wird ausgetauscht. Dann geht sie ihrer Wege. 


Ich stehe in was mir eine lose Ansammlung von Herden zu sein scheint. Es müssen bald tausend wilde Pferde sein. Ich bin umschlossen von dem Geist, dem Avatar, der physischen Manifestation des Prinzips Pferd.

Wie die Geburt eines Sternes explodiert Liebe aus mir hinaus. Ich fühle, wie Energie in mich strömt und mich mit dem verbindet, was ich verehre, mit was ich mich identifiziere.

Ich werfe meinen Kopf in den Nacken, recke meine Arme in den Himmel und lasse alle körperlichen Empfindungen hinter mir. Und mein Geist, meine Liebe, meine Seele wird eins mit dem alles durchdringenden Gefühl des "Pferd", das mich umgibt und erfüllt. 


Für einen Moment bin ich erleuchtet. Nur eine winzige Spanne Zeit, aber in meinem Erinnerung ist mir, als habe sie so lange gedauert wie all die langen Erdzeitalter zusammen.

Der Geist des Equus ergreift für einen Moment von mir Besitz und ich kann fühlen was es heißt, ein Pferd zu sein.

Durch offene Ebenen stürmen, vor Raubtieren fliehen, sich im Staub wälzen, zum nackten Überleben in kaltem, gefrorenen Boden zu scharren, sich auif offenen Weiten im Frühling zu lieben, närrisch im Hochsommer herumzutollen, nach Fliegen zu schlagen, mit Freunden das Fell zu pflegen, in pechschwarzer Winternacht vor strömendem Regen unter Bäumen Schutz zu suchen, den warmen erdigen Geruch nasser Pferde zu wittern, die sich zusammengedrängt wärmen in einer kalten Nacht im Wald... 


Einen Atemzug lang bin ich ein Pferd.

Nichts wird so sein, wie es war... hiernach.


© Dobbin, August 1996

Übersetzt von Michael